GOTT INS ZENTRUM STELLEN

Worte von Papst Benedikt XVI. an die Kirche in der Schweiz

Einige pastorale Zielsetzungen
Msgr. Pier giacomo Grampa

Einige pastorale Zielsetzungen

1. Das Wort Gottes in lebendiger und moderner Form verkünden

2. Die Glaubensunterweisung erneuern

3. Das Sakrament der Buße wieder neu lernen

4 Die Ortskirchen der Weltkirche öffnen

5. Gesamteuropäischer Einsatz für das große Erbe des Christentums

6. Eine falsche Auffassung von Freiheit überwinden


Noch tief beeindruckt vom Ad-Limina-Besuch beim Papst, dem ich gemeinsam mit meinen Schweizer Mitbrüdern im Bischofsamt beiwohnen durfte, und nach erneuter Lektüre der Worte, die der Heilige Vater an uns richtete, möchte ich vorliegend einige pastorale Zielsetzungen für die Seelsorge formulieren, die im Zeichen eines sowohl intelligenten, wie gleichzeitig tiefen Glaubens stehen. Denn ich bin überzeugt, dass etliche Probleme der Kirche in der Schweiz gerade auf diesem – bei uns ungelösten – Zielkonflikt gründen.

1. Das Wort Gottes in lebendiger und moderner Form verkünden

Was braucht der moderne Mensch von heute, was kann er von der Kirche erwarten in einem Umfeld dauernder massenmedialer Berieselung, in einer Welt, in der die ma-teriellen Dinge, die tausend Dinge der Luxusgesellschaft zwar nicht fehlen, in der ihr Sinn aber immer mehr abhanden kommt?
Was heute immer mehr not tut, ist eine klare, einfache, aber auch auf das Grundle-gende konzentrierte Botschaft, die den tieferen Sinn des Lebens wiederfinden hilft, die unserem Lebensweg Sinn gibt und ihn erleuchtet.
Ich werde das unaufhörliche Weinen des zehnjährigen Sebastian nicht mehr verges-sen, der mich während eines Pastoralbesuches, als er die Gelegenheit hatte, seinem Bischof eine Frage zu stellen, aufgewühlt und tränenüberströmt fragte: Ist es wahr, was mir meine Eltern sagen, dass es nach dem Tod ein Paradies gibt? In Sebastians Weinen, in seiner angstbeladenen Frage liegt die einzige Frage, die dem Leben Sinn gibt: Warum lebe ich? Wohin gehe ich? Wie muss ich dann leben? Was ist der Sinn meines Lebens? Der Mensch braucht kein Geschwätz, sondern Antworten auf diese Fragen, die nach dem Sinn seines Lebens suchen. Die Hinweise, die Papst Benedikt XVI. uns Schweizer Bischöfen anlässlich des Ad-limina-Besuchs hierzu gab, sind eine Antwort, und sie sind es deshalb wert, in ihren Grundzügen hier wieder aufgenom-men zu werden, um für uns Leitlinien unserer seelsorgerlichen Tätigkeit zu werden.
Der heutige Mensch erwartet von uns keine Vorschriften, Regeln, Anweisungen oder Befehle, sondern die freudige Verkündigung, die erneute Vorlage der Botschaft des liebenden Gottes, der für und mit uns ein Heilsgeschehen, eine Heilsgeschichte ver-wirklicht hat.
Und diese Heilsgeschichte gilt es nun wieder neu vorzulegen, so, wie sie in der Heili-gen Schrift enthalten ist, aber nicht historisierend, sondern in ihrem wahren Gehalt, indem wir in die Tiefe des Geheimnisses eindringen, das uns umfängt und das uns einnehmen müsste.
Es geht mithin nicht darum, etwa nur den bisherigen Weg Gottes mit den Menschen kennenzulernen, sondern seinen aktuellen Wert für uns heute zu begreifen. Als Jesus in der Synagoge von Nazareth das Buch des Propheten Jesaja liest, bemerkt er dazu: «Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt». Wenn diese Be-gegnung mit der Schrift nicht hier und heute erfolgt, im Glauben der Kirche verwur-zelt, so bleiben Schriftkenntnis und Bibelstudium eine akademische Übung, die wohl fachlich hochstehend und modern sein mag, dabei aber eben kalt und distanziert bleibt, den Menschen nicht einbezieht und auch nicht interessiert.
Der Weg der Verkündigung muss jener sein, der uns von Johannes zu Beginn seines ersten Briefes aufgezeigt wird: «Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens. Denn das Leben wurde offenbart; wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. Was wir gesehen und gehört haben, das verkün-den wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt. Wir aber haben Ge-meinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Wir schreiben dies, damit unsere Freude vollkommen ist» (1Joh 1,1-4).
Mit seinen Hinweisen will der Papst uns dazu einladen, zu begreifen, dass die Ver-kündigung der christlichen Botschaft mehr ist als die Weitergabe oder der Austausch von Informationen, Nachrichten oder Daten: Wahrhaftige Kommunikation schafft eine persönliche Beziehung, sie ist Begegnung und Dialog, in dem wir uns selbst ganz einbringen, mit all dem, was wir sind und was wir tun.
Das Wort der Schrift ist ein Wort, mit dem das wahre Antlitz Gottes aufgezeigt wird, das insbesondere durch die Taten und Worte Jesu die Verletzungen des Menschen heilt, seine Ängste besiegt, uns von jeder engen, am Buchstaben des Gesetzes kleben-den Form der Religion befreit, das Herz erforscht und das Leben erfüllt, neue Wege der Hingabe und des Engagements für den Menschen eröffnet. Das Wort Gottes ist jederzeit vom Geist erfüllt und verwirklicht die treffende Formulierung des Irenäus: «Gloria enim Dei vivens homo, vita autem hominis est visio Dei» (Adv. Haer. IV,20,7). Der Ruhm Gottes besteht darin, dass der Mensch lebe, das wahre Le-ben des Menschen aber ist die schauende Gemeinschaft mit Gott.
Der Heilige Vater geht nicht soweit, uns Methoden und konkrete Wege zur Errei-chung dieses Zieles aufzuzeigen. Indem wir den Hinweisen des kompetenten Meisters Kardinal Carlo Maria Martini folgen, können wir hier vielleicht auf die zwei Arten hinweisen, mit denen das Wort Gottes in lebendiger und zeitgemäßer Weise verkün-digt werden kann. Es ist dies die Lectio divina.
Die erste Methode, die klassische, geht vom Text aus, um gemäß dem folgenden Schema zur Verwandlung des Herzens und des Lebens zu gelangen:
Lektüre – Meditation – Gebet – Betrachtung – Vollzug/Umsetzung.
Die zweite Methode geht von der konkreten Lebenssituation aus und versucht, diese im Licht des Wortes Gottes in ihrer Bedeutung und Botschaft zu verstehen. Dies wird anhand der folgenden zwei Fragestellungen versucht: Wie zeigt sich die Gegenwart Gottes in dieser Situation? Welches Angebot macht mir der Herr durch dieses Ge-schehen? Eine Spielart dieser Methode ist der Dreischritt «sehen – urteilen – han-deln». Dabei heißt «urteilen», das Geschehen im Licht des Wortes Gottes zu verste-hen, und «handeln» heißt, sich an den Geboten des Evangeliums auszurichten.
Um in lebendiger und gegenwärtiger Weise das Wort Gottes neu verkündigen zu können, lohnt es sich, die fünf Elemente, in die sich eine geistliche Lektüre der Heili-gen Schrift unterteilt, in Erinnerung zu rufen:
Das Lesen und wiederholte Lesen des Textes (lectio): seinen Sinngehalt, also die Per-sonen, Handlungen, Worte und Bestandteile verstehen. Es ist dafür Wort für Wort zu lesen und zu unterstreichen, was wichtig erscheint.
Die Meditation (meditatio): Wiederaufnahme des Textes, um seine heutige Botschaft zu verstehen. In der lectio geht es um die Aussage des Textes an sich; in der meditatio darum, was der Text heute und zu mir sagt.
Das Gebet (oratio): Das Gebet wendet sich an Gott unter Verwendung der Worte, des Kontextes und der im Text angesprochenen Gefühle, um zur höchsten Umsetzung der lectio zu gelangen.
Die stille Betrachtung (contemplatio): Diese besteht im Zwiegespräch mit Jesus, der mit mir über den Text spricht, indem ich vor ihm, der mit mir spricht, innehalte, ihm danke, mich ihm anbiete, ihn um Vergebung, Erleuchtung und Kraft bitte. Sie ver-wirklicht sich in drei Haltungen: die consolatio im Sinne der Gegenwart des Geistes, der ein Gefühl der Fülle vermittelt, was wiederum zur discretio führt, und diese zur deliberatio, d.h. zur Unterscheidung des Geistes, der mich entscheiden lässt, nach-dem ich verstanden habe, was der Herr von mir verlangt.
Die Umsetzung (actio): Welches Tun verlangt der Text von mir – als einfache Hand-lung, als symbolische Handlung oder als Prüfung meines Selbst in diesem Zeitpunkt?
Der Glaube kommt vom Hören, sagt uns der Apostel: «Fides ex auditu» (Röm 10,17). Aber nicht aus einem bloßen Zuhören, das den Verstand zur Einsicht führt, sondern aus einem Zuhören, das einen betenden Dialog mit Jenem eröffnet, der sich mir im Wort offenbart und von mir das Zeugnis eines ihm gemäßen Lebens, eines lebendigen Beispiels verlangt. Nur so, in einer solchen Umsetzung der lectio divina, ist der Glau-be sowohl einsichtig wie tief, ist er Verstehen und betende Zwiesprache.
Wir übermitteln nicht eine eigene Botschaft, sondern ein Geschenk, das wir erhalten haben, eine uns offenbarte Nachricht, die wir immerzu wiederentdecken, vertiefen, in ihrer Fülle neu erleben müssen. Wir haben keine Reichtümer, irdische Schätze, mate-rielle Güter, aber diesen verletzlichen Schatz des uns übermittelten Wortes Gottes: Licht, Hefe und Salz, mit dem wir, bauend auf die durchdringende Kraft des Geistes Gottes, die tiefen Fragen unseres Herzens beantworten und unser Gewissen schulen und erneuern können. Die Schrift übermittelt uns die Botschaft, dass das fleischge-wordene Wort für uns alle gestorben ist, «damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde (...) Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist ge-worden» (2Kor 5,15-17).
Wollen wir somit Christen sein und bleiben und werden, so müssen wir wieder von der Schrift ausgehen, zurückkehren zum Wort Gottes, zum Wort des Lebens und der Unsterblichkeit, das von bleibendem Wert und unabdingbarer Bezugspunkt für uns ist. In einem seiner Beiträge führt Kardinal Carlo Maria Martini in klarsichtiger Ar-gumentation aus, die Bibel sei das Buch Europas, denn «es ist nicht nur das Buch, das die Überlieferungen des jüdischen Volkes und die Entstehung des Christentums enthält, sondern das Buch, das die gesamte europäische Geschichte geprägt hat, wie alle großen Exponenten der europäischen Geistesgeschichte betont haben. Er zitiert in diesem Zusammenhang Goethe («Europa war auf dem Pilgerpfad geboren und das Christentum ist seine Muttersprache»); Kant («Das Evangelium ist die Quelle, in der unsere Zivilisation ihren Ursprung hat»); Nietzsche («Abraham ist uns mehr als ir-gendeine Person der griechischen oder deutschen Geschichte: und von dem, was wir bei Davids Psalmen empfinden, ist das, was das Leben Pindars oder Petrarcas in uns erregt, so verschieden wie die Heimat von der Fremde»). Er erinnert an Claudel, der die Bibel das «große Lexikon» nannte, und an Chagall, der die Heilige Schrift als ein «farbiges Alphabet der Hoffnung» bezeichnete. Aber der Kardinal betont auch, die Bibel sei «vor allem auch das Buch der Zukunft Europas, da wir in ihren Seiten im-mer mehr unsere Wurzeln erkennen und Beweggründe finden werden, um uns als großes europäisches Volk auf den Weg zu machen». Denn «es wird immer nötiger werden, starke und aufrichtige Wahrheiten über den Menschen auszusprechen, über sein Leben und seine Zweckbestimmung, und dies ausgehend von den Aussagen der Bibel, die ihrerseits von der Wahrheit Gottes ausgehen. Es wird nötig sein, Gott dem modernen Menschen in einer klaren und verständlichen Sprache zu verkünden, die sowohl seine Transzendenz als auch seine Liebe zu den Menschen ausdrückt und zu-gleich das Verlangen der Menschen aller Zeiten, in Gott zu ruhen. Die Bibel enthält dieses Wort».

2. Die Glaubensunterweisung erneuern

Die letzten, von einer großen Anstrengung für die Weitergabe des Glaubens gepräg-ten Jahre haben immer klarer werden lassen, dass sich die sozusagen «kulturelle» Weitergabe des Wissens, die sich vor allem im Rahmen des schulischen Unterrichts abspielt, von der viel eher katechetisch zu nennenden Vermittlung, die im kirchlichen Umfeld stattfinden muss, unterscheidet. Letztere ist eng verbunden mit dem Prozess der Einführung in das Christentum und der entsprechenden fortschreitenden Feier der Sakramente, die diesen Prozess prägen.
Der Heilige Vater weist uns insbesondere auf die notwendige Erneuerung der Glau-bensvermittlung im kirchlichen Umfeld hin. Um diese seine Forderungen umzuset-zen, müssen wir das Bild des Katecheten erneuern. Dieser muss zugleich Zeuge wie Lehrer, Prophet und Freund sein. Auch beim Katecheten muss die Einsicht in den Glauben mit seiner «andächtigen», «frommen» Ausübung Hand in Hand gehen.
Der Zeuge ist ein sichtbares Zeichen des Mysteriums: «Er ist derjenige, der gesehen, der mit der Hand berührt hat» und der nun an andere weitergibt, was er von der le-bendigen Tradition der Kirche empfangen hat. Der Katechet ist nicht dazu berufen, eigene Worte weiterzugeben, sondern Prophet zu sein, d.h. einer, der im Namen Got-tes spricht, indem er getreu sein Wort weitergibt. Dazu setzt er auch die Sprache der Symbole und Zeichen ein, indem er aufzeigt, was in diesen zu lesen ist.
Aber gerade weil der Katechet berufen ist, nicht ein Wort weiterzugeben, das nur Lehrinhalt wäre, sondern das Wort, welches die lebendige Person Christi ist – denn er ist Offenbarung und Offenbarer zugleich –, muss er seine Aufgabe mit Liebe und lebendiger Hingabe wahrnehmen, indem er seinen Auftrag als Ausdruck der Liebe Gottes versteht. Er hat Zeuge seines Glaubens zu sein.
Seit der Zeit der Apostel ist Katechese nicht nur Weitergabe von Lehrinhalten, von Wissen, sondern vielmehr Weitergabe des Lebens in der Gemeinschaft der Kirche: Der Katechet nimmt nicht eine private Aufgabe wahr, sondern vermittelt den Glau-ben der Kirche.
Gerade weil der Religionsunterricht sich somit nicht in einem Lehrauftrag erschöpft, ist der Katechet dazu berufen, sich die Erziehung seiner Brüder im Glauben zur Auf-gabe zu machen: Er ist Lehrer und zugleich Freund, geradezu älterer Bruder, ältere Schwester. Sein Können und Wollen muss wahrhaft katechetisch sein, nicht nur mit der verständigen Weitergabe der Glaubenswahrheiten befasst, sondern auch mit der Verbindung von Glaube und Leben. Deshalb gehört zu seinen Kernkompetenzen im-mer auch pädagogisch-psychologisches Wissen, um die Übernahme des mit Verstand und Herz Aufgenommenen in den konkreten Lebensvollzug zu ermöglichen.
Wie kann man nun Alltags- und Weltgeschehen als etwas Überweltliches, als Zeichen der Gegenwart Gottes aufzeigen? Wie mit nachvollziehbaren Worten den Gehalt der Zeichen erweisen, um die Präsenz desjenigen, der diese Zeichen wirkt, aufzuzeigen? Aus dieser Schwierigkeit erwächst die Notwendigkeit, Bilder, Zeichen für die Lehre zu finden. Aber wenn das gewählte Zeichen den Gehalt nicht erweist, das Mysterium, das es enthält, nicht preisgibt, die Gnade nicht freigibt – wenn es den Dialog mit dem göttlichen, unsichtbaren Gegenüber nicht ermöglicht, dann kann die Katechese nicht behaupten, ihre Aufgabe erfüllt zu haben.

3. Das Sakrament der Buße wieder neu lernen

Auch wenn wir sicher nicht blind sind gegenüber der Krise, in der sich das zuneh-mend seltener empfangene Sakrament der Buße seit gut fünfzig Jahren befindet, so müssen wir doch anerkennen, dass die Dynamik der Umkehr besser erfasst wird. Denn Umkehr geschieht nicht in einem wiederholten Einzelakt, sondern in einem fortgesetzten und fortwährenden Prozess der Vertiefung.
«Kehrt um und glaubt an das Evangelium» (Mk 1,15), sagt Jesus, denn darin besteht die Erlösung. Wir fragen, ob die Umkehr der Hinwendung zum Evangelium voraus-geht oder ihr folgt. Doch besteht kein Zweifel, dass sie sich nur als Folge des Hörens auf und der Hinwendung zum Evangelium verwirklichen kann. Um aber das Evange-lium annehmen zu können, ist es notwendig, dass der Mensch seine Begrenzung er-kennt und sich nicht in ein auf sich selbst bezogenes, selbstgenügsames Menschen-bild einschließt. Wenn das Geschöpf unter anthropologischem Gesichtspunkt seine Grenzen nicht mehr wahrnimmt und das Wissen um die Sündhaftigkeit einbüßt, so wird es das Bedürfnis nach Vergebung und damit die Notwendigkeit der Umkehr nicht mehr einsehen.
Von hier muss die Arbeit der Rückgewinnung [des Sakramentes der Buße] ausgehen, um die Wertschätzung für das Geschenk der Barmherzigkeit und des Heils wieder zu entdecken.
«Eine der bedenklichen Erscheinungen unserer Zeit ist der weit verbreitete Mangel des Sündenbewusstseins», hat der Heilige Vater formuliert.
Die vordringliche Aufgabe ist die Schulung der Gewissen, die dabei lernen müssen, dass die Schuld nicht nur einschränkend, sondern auch Unheil bringend ist. Die Aufmerksamkeit muss auf der Formung eines geradlinigen und feinfühligen Gewis-sens liegen, das sich der geschichtlichen Bedingtheit und Hinfälligkeit des Geschöp-fes bewusst ist. Allzu oft ist die Bußpraxis von sehr mittelmäßiger Qualität – es herrscht die Wiederholung in der Kindheit erlernter Stereotypen vor, die die Sünde mit Defiziten in der Religionspraxis gleichsetzen und bewenden lassen. Die Schwere der Sünde wird zumeist verflacht, banalisiert. Es liegt nicht wenig Wahrheit in den Worten, mit den viele ihre Beichte beginnen: «Helfen Sie mir, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll....». Die Ernsthaftigkeit der Sünde verstehen heißt vor allem ande-ren, mit Dankbarkeit die von Gott in unsere Hände gelegten Gaben anzuerkennen (confessio laudis), um dann im Lichte dieser grenzenlosen Barmherzigkeit unsere Schuld zu bekennen (confessio vitae).
Die Beichte ist somit ein ernstes Tun, das gerade im Zwiegespräch mit dem Beichtva-ter Raum und Tiefe gewinnt. Ich frage mich, ob zur Wiedergewinnung dieses Ver-ständnisses der Sünde nicht eine Überwindung der inzwischen eingebürgerten Praxis der «Generalabsolutionen», die nicht von Notsituationen gefordert werden, ange-bracht wäre? Denn die Generalabsolutionen nehmen letztlich der Sünde ihre Ernst-haftigkeit und verflachen sie in eine Schwäche, die mit Vergebung und Gnade Hand in Hand gehen kann.
Die Schweizer Bischöfe werden sich dazu verpflichten, ein katechetisches Programm zu formulieren, das zur Bildung von reifen, erwachsenen und verantwortlichen Ge-wissen führt, die wieder neu in lebendiger Weise die Ernsthaftigkeit der Sünde wahr-nehmen und sich mit Freuden der persönlichen Begegnung mit der Vergebung Gottes öffnen.
Diese Initiative zur erneuten Erziehung der Gewissen muss bei den Kleinen, den Kin-dern und Jugendlichen beginnen, um dann bei den jungen Erwachsenen fortgesetzt zu werden. Es erwartet uns ein langer Weg, bevor wir die Schönheit des Sakramentes der Buße wiedergewinnen und die Erfahrung einer wieder stimmigeren, tieferen und wahreren Umkehr erneuern.

4. Die Ortskirchen der Weltkirche öffnen

Ich verweise auf einen Beitrag, den der damalige Kardinal Ratzinger unter dem Titel «Kirchliche Bewegungen und ihr theologischer Ort» publiziert hat. Er führt darin folgendes aus: «Apostelnachfolge bedeutet zunächst das, was uns geläufig ist: Bewah-rung der Kontinuität und der Einheit des Glaubens – in einer Kontinuität, die wir sakramental nennen. Damit ist aber auch ein konkreter Auftrag verbunden, der über die Verwaltung der Ortskirchen hinausgeht: Sie müssen nun dafür sorgen, dass Jesu Auftrag fortgeführt wird, alle Völker zu seinen Jüngern zu machen und das Evangeli-um an die Enden der Erde zu tragen. Sie sind dafür verantwortlich (...), dass die Kir-che nicht eine Art «Föderation» von Ortskirchen wird, die als solche nebeneinander stehen, sondern ihre Universalität und Einheit behält. Sie müssen die universale Dy-namik des Apostolischen weitertragen» (in: Internationale Katholische Zeitschrift «Communio» 27/1998, S. 438). Geschieht dies nicht, so wird sich das Amt der apos-tolischen Nachfolge in der Ausübung von Diensten zugunsten der lokalen Kirche er-schöpfen und dabei die Universalität des Auftrags Christi aus den Augen – und aus dem Herzen verlieren; die Unruhe, die uns dazu treibt, die Frohbotschaft Christi auch anderen zu bringen, erstickt in der Unbeweglichkeit einer mehr oder weniger einge-richteten und etablierten Kirche.
Um es in aller Deutlichkeit auszusprechen: Der Begriff der apostolischen Sukzession beinhaltet etwas, das den rein ortskirchlichen Dienst übersteigt. Die apostolische Sukzession kann sich nie hierin erschöpfen. Das universale Element, das über die der lokalen Kirche zu erweisenden Dienste hinausführt, ist eine unabdingbare und un-ausweichliche Wirklichkeit. Die Kirche ist keine auf das bloße menschliche Zusam-menwirken gegründete Institution, sondern wird durch den Herrn selbst immerwäh-rend neu errichtet als Werk des Heiligen Geistes, «heiliges Zeichen», «Sakrament» seines Wirkens in der Geschichte, wie LG 8 sagt.
Zwei Elemente bilden dieses Sakrament: vorerst das Band, das die Kirche an die Ein-heit der Menschwerdung und des Ostergeschehens Jesu bindet, d.h. das Band zum Handeln Gottes in der Geschichte. Dann aber zugleich das immer wieder Gegenwär-tig-Sein dieses Geschehens durch die Kraft des Heiligen Geistes, der die ständige Er-neuerung und gleichzeitige Fortdauer der lebendigen Kirche sicherstellt.
Diese spirituelle Dimension der Kirche – Werk des Geistes – äußert sich in unseren Tagen auch durch die kirchlichen Bewegungen, die Antworten des Heiligen Geistes auf die wechselvollen neuen Herausforderungen darstellen, denen die Kirche heute gegenübersteht.
So wie die Berufungen zum Priesteramt durch die Verwaltung weder «erzeugt», noch gesichert werden können, so können auch die Bewegungen durch die Oberen weder organisiert noch initiiert werden. Sie müssen uns geschenkt werden – und werden dies auch. Uns fällt es lediglich zu, ihnen unsere besondere Aufmerksamkeit zu schenken und dabei eine sorgfältige Abwägung auszuüben, um das zu erkennen, was in ihnen an Gutem ist, und zugleich zu überwinden, was weniger geeignet erscheint. Unter den Kriterien, nach denen diese Abwägung auszuüben ist, nennt Kardinal Rat-zinger die folgenden: Die Verwurzelung im Glauben der Kirche. Wer den apostoli-schen Glauben nicht teilt, darf sich nicht anmaßen, apostolische Tätigkeit zu entfal-ten. Diese muss diejenigen Elemente enthalten, die sie immer geprägt haben: Gehor-sam, Armut, Enthaltsamkeit. Sodann die Bereitschaft, eine sowohl gemeinschaftliche wie auch persönliche Dimension zu pflegen, um der Gefahr der Einseitigkeit zu be-gegnen, die zur Übertreibung des spezifischen Auftrages und des persönlichen Cha-rismas führt. Und es fehlt gewiss nicht das Risiko des Unverständnisses und des Kon-fliktes mit den ortskirchlichen Strukturen, den Bistümern und Pfarreien. Beide Seiten müssen sich durch den Heiligen Geist, aber auch die kirchlichen Oberen führen las-sen. Die Bewegungen dürfen das Charisma nicht verabsolutieren; im Gegenzug dürfen Priester und Bischöfe keine absolute Einheitlichkeit in der pastoralen Organisati-on verlangen. Und schließlich ist auch gewissen Tendenzen zu intellektueller Über-heblichkeit Einhalt zu gebieten – alle müssen sich vielmehr vom Maßstab der Liebe zur einen Kirche leiten lassen.
So erscheint denn der Aufruf des Papstes in seiner Eröffnungsansprache an die Bi-schöfe anlässlich des Ad-limina-Besuches besonders angebracht, die Ortskirchen mögen sich der Universalität der Weltkirche öffnen: «Wir alle müssen uns ständig bemühen, in dieser Wechselbeziehung das rechte Gleichgewicht zu finden, so dass die Lokalkirche ihre Authentizität lebt und zugleich die Universalkirche davon immer wieder empfängt, damit beide geben und empfangen und so die eine Kirche des Herrn wächst».

5. Gesamteuropäischer Einsatz für das große Erbe des Christentums

Zu einem Zeitpunkt, in dem die Ökumene von Verzögerungen, Stagnation und Er-müdung gezeichnet ist, müssten die christlichen Gemeinschaften neuen Ansporn zur Herstellung der vollen Gemeinschaft miteinander in der Aufgabe finden, die christli-che Prägung in einem Europa zu verteidigen, das sich immer weiter ausdehnt und heute Staaten umfasst, die katholischer, protestantischer, anglikanischer und ortho-doxer Tradition sind. Jeder von uns erinnert sich noch gut daran, mit welchem Nach-druck Johannes Paul II. wiederholt forderte, dass die neue Europäische Verfassung die christlichen Wurzeln Europas anerkenne. Er wurde nicht gehört, auch wenn an-zuerkennen ist, dass der Text des Vertrags über eine Verfassung Europas in Art. 52 Abs. 3 immerhin ausführt: «Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaf-ten in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog». Es gibt aus historischer, theologischer und pastoraler Warte gute Gründe für ein engeres Zusammengehen aller Kirchen zur Ver-teidigung des großen christlichen Erbes Europas. Die zweitausend Jahre europäi-scher Geschichte, die Entwicklung von Kultur, Politik und Gesellschaft in ihrer jewei-ligen Wechselwirkung mit dem Christentum Schritt für Schritt zu verfolgen, wäre eine großartige, gegenwärtig aber natürlich nicht zu bewältigende Aufgabe. Immerhin kann auch so festgehalten werden, dass die leidvolle Spaltung der Christenheit der Anerkennung des christlichen Erbes Europas keinen guten Dienst erweist. Der Appell Papst Johannes Paul II.: «Man schneidet nicht die Wurzeln ab, aus denen man ge-wachsen ist» (Angelus vom 20. Juni 2004) verlangt deshalb, vor allem von den Jün-gern Christi, eine erneuerte Hinwendung zum einen gemeinsamen Gott.
Selbst in Geistesströmungen, die in Opposition zum Christentum entstanden sind, finden sich, wenn man sie vertieft analysiert, in den Grundüberzeugungen christliche Werte, allerdings in einseitiger oder verkürzter Auslegung.
Aus geschichtlicher Warte kann man die christlichen Wurzeln der heutigen europäi-schen Geisteskultur nicht verkennen; es liegt deshalb an den Kirchen, diese Wurzeln wiederzuentdecken und aktiv in einen konstruktiven Dialog mit anderen Geistes-strömungen einzubringen.
In theologischer Hinsicht erscheint das Ideal eines geeinten und friedlichen Europas als ein ungeheuer schöner und wichtiger Wert, wie dies bereits Papst Paul VI. formu-lierte: «[Dieses Ideal] ist die Antwort auf eine zugleich moderne wie weise Wahr-nehmung der gegenwärtigen historischen Situation, in der die Völker in einer engen gegenseitigen Verflechtung leben; es steht zudem in völliger Übereinstimmung mit der christlichen Sicht des menschlichen Zusammenlebens, die danach trachtet, die Welt zu einer einzigen Familie von Brudervölkern zu formen» (Ansprache an die Teil-nehmer des Nationalen Kongresses des Zentrums «Junges Europa» vom 8. September 1965).
Die Theologie hat die Frage aufgeworfen, ob es einen konkreteren, eigenständigeren Weg für die christlichen Kirchen geben könnte, sich gemeinsam für die Einheit des europäischen Kontinents einzusetzen, und was getan werden könnte, um das Band zwischen Europa und dem Christentum enger zu knüpfen. Es fragt sich auch, ob ein europäisches Projekt heute angesichts einer sich formenden einheitlichen globalen Kultur noch einen eigenständigen Wert haben könne.
Hierauf lässt sich mit Karl Rahner antworten, der schreibt, dass unser Kontinent zur Teilhabe an einem historischen Heilsauftrag, der sich nicht in einer bestimmten Zeit-epoche erschöpft, bestimmt ist.
Zur Untermauerung dieser seiner These führt er aus, es bestehe ein historisch-existentielles Band zwischen der mediterranen Kultur und dem Rest der Welt auf-grund der von hier ausgegangenen Verbreitung der christlichen Botschaft. Es sei ein historisches Faktum, dass Europa Durchgangsort und Brücke zwischen Asien, wo die christliche Botschaft entstand, und dem Rest der Welt sei. Diese nicht zufällige oder nebensächliche Tatsache sei Maßgabe für die Bestimmung Europas, für die Verbreitung des Christentums in der ganzen Welt Sorge zu tragen, und dafür bewusst die Verantwortung zu übernehmen. Darin liege nun geradezu eine theologische Notwen-digkeit, eine europäische Einheit anstreben zu wollen. Theologisch im Sinne eines direkten Bezugs zum geschichtlichen Heilsplan, der von Gott für die Verkündigung seiner Heilsbotschaft gewollt ist.
In welchen Bereichen gilt es aus pastoraler Sicht sich einzusetzen, um ein gemeinsa-mes Engagement in Europa umzusetzen?
Es gibt eine weitverbreitete Suche nach neuen Werten. Materialismus, Hedonismus, grenzenloser Wohlstand, oder ein auf sich selbst bezogenes Leben können den Men-schen nicht zufrieden stellen.
Neue Werte sind gefragt – Frieden, Umweltschutz. Vielfältige, völlig neue Probleme stellen sich, aber auch neue Freiheiten, neue Aufgaben für den Staat, für die neuen, pluralistischen Gesellschaften; die Wanderbewegungen ganzer Völker schaffen neue Fragestellungen. Somit sind, um sich einer Welt zu stellen, die in Bewegung ist, sich entwickelt, und jede bisherige Begrenzung und Festlegung hinter sich lässt, ganz neue Antworten zu suchen.
Dies ist der Rahmen, in den der Papst und die Kirchen die Notwendigkeit einer mutigen und überzeugenden Neuevangelisierung stellen. Diese Neuevangelisierung be-steht nun nicht darin, alles wieder von vorne zu beginnen, so als ob die in der Vergangenheit geleistete Arbeit nichts wert gewesen wäre. Vielmehr steht die Neuevan-gelisierung in organischer, aber dynamischer Kontinuität mit der ersten Evangelisie-rung.
Wichtig ist, die erneuerte Evangelisierung bewusst auf die gemeinsamen Wurzeln Europas zu gründen. Somit muss die Neuevangelisierung ökumenisch sein; wir müs-sen eine gemeinsame Sprache des Evangeliums finden und sprechen, um zusammen Europa zu evangelisieren. Wir müssen von einem «Glauben aus – durchaus hoch zu achtender – Gewohnheit übergehen zu einem Glauben, der gefestigt, persönlich, auf-geklärt, überzeugt, zeugnisgebend ist». Die Neuevangelisierung verlangt, so Kardinal Martini weiter, dass wir uns geduldig mit Liebe und Demut über unsere Gesellschaft beugen – mit all ihrer Not, ihren Mühen und Lasten, um sie zu befähigen, in erneuer-ter und größerer Fülle die zutiefst befreiende Botschaft des Evangeliums leben zu können.
Um dies umsetzen zu können, bedarf es aus Sicht des Kardinals einiger Vorausset-zungen:
a) Vorerst und vor allem die dauernde Bezugnahme auf das Wort Gottes, und der tiefe und tägliche Umgang mit ihm bei allen Gläubigen.
b) Das zeitige und wirksame Zeugnis einer «Selbstevangelisierung». Es geht darum, dass wir selbst, in Wort und Tat, Frohbotschaft, «Evangelium», sind. In unserer Pfarrei, in unserer Gemeinschaft müssen wir die sichtbare Erfahrung des Evangeliums leben.
c) Der intelligente und ausdauernde Einsatz für eine neue Verankerung und Verwurzelung des Evangeliums. Dies bedingt zum einen die innige Verwandlung der echten Werte unserer Gesellschaft durch ihre Einbettung ins Christentum, zum anderen die Verwurzelung des Christentums in den verschiedenen Kultu-ren. Für Europa, das von der wissenschaftlichen Rationalität geprägt ist, das tiefgreifend verstädtert und pluralistisch ist, heißt dies konkret, Wege zu finden, um die Hefe des Evangeliums in dieser Wirklichkeit aufgehen zu lassen.
d) Eine wahrhafte Zusammenarbeit und Gemeinschaft der verschiedenen katholi-schen Kirchen des Kontinents auf einem lebendigen und gemeinsamen Weg.
e) Eine aufrichtige Solidarität mit den anderen christlichen Gemeinschaften in Eu-ropa. Die Neuevangelisierung muss eine ökumenische Evangelisierung sein.
f) Ein tiefer, verständiger interreligiöser Dialog, insbesondere mit dem Judentum und dem Islam.
Schließlich ist es notwendig, Aufgabe und Bedeutung des kirchlichen Lehramtes wie-der neu zu entdecken. Der christliche Humanismus, der den Menschen in den Mittel-punkt der Geschichte stellt, ist ebenso wiederzuentdecken und zu vertreten, denn nicht Wissenschaft, Technik oder Wirtschaft, sondern der Mensch muss in jeder neu-en Struktur die zentrale Rolle einnehmen.
Während wir als Christen die Schaffung eines vereinten Europas mitverfolgen, müs-sen wir uns bewusst bleiben, dass unser Kontinent einen wesentlichen Teil des Welt-geschehens geprägt hat und weiter prägen muss. So wie einst Europa der Ausgangs-punkt für eine weitverbreitete Evangelisierung der Welt war, so ist noch immer die Evangelisierung der Welt an die Re-Evangelisierung unseres Kontinentes gebunden.
Nicht Opposition, sondern die Suche nach dem Gemeinsamen, nach dem im gemein-samen Interesse aller Liegenden tut not, um einen fortschreitenden gemeinsamen Weg der Integration einschlagen zu können.
Ohne ein Zusammengehen der Christen sind viele dieser Probleme nicht lösbar. Es bedarf der Anstrengung aller Gläubigen, um sich gegenseitig darin zu stützen, unter heutigen Bedingungen den Glauben leben zu können. Es liegt an ihnen, den Vorrang der Innerlichkeit auf dem Weg zur Einheit zur Geltung zu bringen. Die Gläubigen müssen innewerden, dass sie nicht nur zum Export von Technologie und Wohlstand befähigt sind, sondern auch zur Vertiefung der Hingabe Gottes, die in einer reichhal-tigen, vielfältigen Geschichte ihren historischen Ausdruck gefunden hat, zum anderen zur Wiederentdeckung des Geistes, der sich wie eine Quelle immerwährend und auch heute in unserer Mitte offenbart.

6. Eine falsche Auffassung von Freiheit überwinden

Wenige Worte sind so missbraucht, entstellt, verraten worden wie das Wort «Frei-heit». Allzu viele, die «Freiheit» sagen, meinen damit, tun zu können, was sie wollen, nicht, was sein muss, oder soll. Sie verwechseln Freiheit mit Laune oder schlicht mit Spontaneität, und bedenken dabei keineswegs, dass ein spontaner Akt, wie das Nie-sen, keineswegs frei ist, nicht von meinem freien Willen abhängt, nicht gewollt, son-dern unwillkürlich ist. Wie viele Worte werden in der Diskussion über die Freiheit sinnlos vergeudet!
Eine Wahl ist dann frei, wenn sie von mir abhängt, wenn ich sie begründen kann und dafür die Verantwortung übernehmen kann. Es gibt keine echte, wahre Freiheit ohne Verantwortung, d.h. ohne die Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu begründen und sie verantworten zu können. Der Papst warnt vor einer solchen irrationalen, nicht zu rechtfertigenden, launischen Freiheit als einer «Gegenmoralität, die sich auf einen Begriff der Freiheit als des Allein-selber-wählen-Könnens und der Nicht-Diskrimination, also der Zulassung aller Arten von Möglichkeiten, stützt».
Der Papst wendet sich gegen eine Auffassung von Freiheit, die keinen Unterschied macht zwischen Gut und Böse, Leben oder Tod, Laster oder Tugend, zwischen dem guten und dem schlechten Menschen – die nicht zu unterscheiden und nicht abzuwä-gen weiß, die keine Begründungen gibt, welche doch jede Entscheidung tragen müs-sen, soll diese wahrhaft menschlich frei und nicht einfach Spielball äußerer Interes-sen sein. Leider gilt es auch einzuräumen, dass ein derart entscheidender Teil der christlichen Botschaft wie jener der Freiheit nur spärlicher Bestandteil der christli-chen Erfahrung gewesen ist.
Auch innerhalb der Kirche muss die Freiheit ernst genommen werden: Es dürfen kei-ne Entscheide erzwungen werden, für die bei den Gläubigen folgsame Nachachtung verlangt wird, ist doch der Christ ganz im Gegenteil zur Freiheit berufen (vgl. Gal 5,13), d.h. zu einer Nachachtung von Geboten, die nicht von außen auferlegt, sondern aus dem Inneren in bewusster eigener Entscheidung vollzogen wird. Chris-tus hat uns vom Gesetz befreit, das ist die freudvolle Lehre des Galaterbriefes, der uns eben daran erinnert, dass nicht in der Erzwingung von außen, sondern in der inne-ren, aus der Liebe wachsenden Nachachtung sich die wahre Freiheit verwirklicht.
Also nicht eine Freiheit der «Nicht-Diskrimination», wie es der Papst moniert, son-dern eine von der Liebe getragene Freiheit, die sich auf das Gute, auf den Geist be-ruft, der uns geschenkt wurde, und der uns von den Bedingtheiten des Fleisches, der Welt, der Sünde befreit. Wir sind frei in dem Maß, wie wir uns an den Werken der Liebe gegenüber Gott und unserem Nächsten ausrichten. Frei geworden durch das Opfer des für uns gestorbenen und auferstandenen Herrn Jesus Christus, sind wir definitiv frei in dem Maß, wie wir uns ihm zuwenden. Die Hinwendung zum Herrn, die uns die Wahrheit über uns und die Dinge aufzeigt, ist es, die uns frei macht in unseren Entscheiden.
Diese Sicht der Freiheit müssen wir wieder einbringen und dabei vermeiden, von Gehorsam als Gegenstück der Freiheit zu sprechen. Vielmehr müssen und dürfen wir den Zauber einer Lebensführung, der christlichen Lebensführung entdecken, die au-ßer der Liebe keine Bedingungen stellt.
7. Das Christentum nicht als Morallehre, sondern als Geschenk auf-zeigen
«Ich denke, da haben wir eine ganz große Aufgabe vor uns: einerseits das Christen-tum nicht als bloßen Moralismus erscheinen zu lassen, sondern als Gabe, in der sich uns die Liebe schenkt, die uns trägt und die uns dann die Kraft des Sich-Verlierens gibt; und andererseits in diesem großen Kontext der geschenkten Liebe dann auch zu den Konkretisationen schreiten, deren Grundlage uns immer noch der Dekalog anbietet, den wir mit Christus, mit der Kirche in dieser Zeit weiterlesen und neu lesen müssen».
Das Christentum ist nicht einfach Morallehre, Ethik, es ist eine Gabe. Es ist die Begegnung mit einem Geschehen, das uns überraschen muss, es ist Beziehung zu einer Person, die sich ganz gegeben hat, ohne sich aufzudrängen, die nichts verlangt, sondern frei einbringt und sich mit einem neuartigen Entwurf, der jedes Gesetz über-steigt, darbringt.
Papst Benedikt XVI. lädt uns ein, das Christentum wieder als das kennenzulernen, was es eigentlich ist: das dargebrachte Eindringen einer Präsenz, die uns überwältigt, und in eine Erfahrung der Freiheit hineinzieht. Eine fein ziselierte, erstickende Vor-schriftenmacherei, eine richtiggehende «Beschießung» mit Vorschriften und Geboten hat die Schönheit des christlichen Geschehens, die doch eigentlich die Botschaft des Lebens in Fülle ist (vgl. Joh 10,10), lange zu unterdrücken vermocht.
Das Christentum ist nicht Gesetz, sondern eine Person, jene des Sohnes Gottes, der gekommen ist, uns den wahren Geist, der «Liebe, Freude, Friede» ist (Gal 5,22) als Gabe darzubringen. Dieser göttliche Plan hat sich dem Menschen in der Fleischwer-dung des ewigen Wortes Gottes gezeigt, indem allen das Geheimnis des göttlichen Rufes aufgetan wurde, das davor während der Zeit verborgen geblieben war. Alle Menschen sind ohne Unterschied dazu berufen, einen neuen Leib in Christus Jesus zu bilden (Eph 3,6). Das ist die Gabe, die den Menschen in das dreifaltige Leben Got-tes einbringt. Die Taufe ist nicht ein Akt der moralisch-sittlichen Reinigung, sondern Eintauchen in das Leben von Gott Vater, Sohn und Geist.
Das ist die Frohbotschaft, die wir zu verkündigen haben. Das ist kein Konglomerat von Normen, Riten oder Verhaltensweisen, sondern die Teilhabe am Leben unseres Gottes, das uns im Sohn Jesus und in seinem Geist geschenkt ist.
Wir müssen lernen, dieses wundervolle Geschenk den Menschen wieder näher zu bringen. Gott liebt den Menschen, und in Jesus bringt er sich jenen dar, die ihn in gegenseitiger Liebe aufzunehmen wissen, dergestalt, dass dann mit Paulus gesagt werden kann: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir» (Gal 2,20). Kern unseres Auftrags ist die Überbringung dieses Geschenks, ist die Entdeckung dieser Wahrheit, die, einmal angenommen, das ganze Leben des Menschen verwandelt, und ihm dadurch die Sicht auf das Letzte, Endgültige eröffnet.
Die Einladung des Papstes führt unseren Auftrag zu seinem Kern zurück. Die Verkündigung des Geschenks des Himmels gilt auch jenen, die es nicht kennen; dieses Geschenk schon hier auf Erden in hundertfacher Weise betrachten zu können, nimmt die Schwelle vorweg, auf die wir alle zusteuern, verwandelt unser Leben in der Betrachtung, gibt auch dem Leiden Sinn und befähigt uns, immerfort Dank zu sagen, ungeachtet der Einschränkungen und Mühen des Alltags.